Bildung in der Polykrise
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Geschätzte Leser
Seit dem 13. März 2020 ist unser Leben durch die Erfahrung der Corona-Pandemie geprägt. Seit dem 24. Februar 2022 sind wir mit dem menschlichen Elend konfrontiert, welches durch den Krieg in der Ukraine verursacht wird. Seit einigen Wochen zeigen die Nachrichten Bilder der brennenden Wälder Europas und Amerikas und wir alle sehen dem kommenden Winter mit einer drohenden Stromknappheit entgegen. Uns allen wird in drastischer Weise gezeigt, dass die Welt aus den Fugen zu geraten droht und dringender Handlungsbedarf besteht. Dessen ungeachtet, flogen diesen Sommer täglich wieder Zigtausende in die Ferien, dem Wunsch folgend, zur sogenannten «Normalität» zurückzukehren und auf der Suche nach «Monotonie in der Südsee, Melancholie bei 30 Grad». Was bedeutet die aktuelle Polykrise für eine Bildungsinstitution wie das Literargymnasium Rämibühl? Wie reagierten wir im zu Ende gegangenen Schuljahr 2021/22 darauf?
Zum einen mit dem Bestreben, Normalität und Kontinuität im schulischen Alltag so weit als möglich wiederherzustellen.
Nach zwei Schuljahren, in welchen die Unterrichtsorganisation mehrmals geändert und viele Sonderanlässe gestrichen oder neu konzipiert werden mussten, konnten im vergangenen Schuljahr erstmals der Unterricht wieder durchgehend im Präsenzmodus und sämtliche LG-Sonderanlässe durchgeführt werden (LG-Tage und LG-Wochen, Maturaarbeitspräsentationen, Besuchstage, Aufführungen der AG Theater und der Theaterwerkstatt, Konzerte des Orchesters und der Big Band, «Sommer am LG» für die 1. Klassen etc.). Nachdem im März an den Zürcher Mittelschulen die Maskenpflicht gefallen war und sich die Schulangehörigen (endlich!) wieder von Angesicht zu Angesicht begegnen konnten, fühlte sich das Leben zeitweise tatsächlich wieder wie vor der Zeitenwende von «Freitag, dem 13.» des Frühjahres 2020 an.
Die wiedergewonnene Normalität hatte positive Folgen für die Gesundheit und Leistungsfähigkeit unserer Schülerinnen und Schüler. Unsere Schulärztin Dominique Simon berichtete der Schulleitung Ende Schuljahr von einem markanten Rückgang des Beratungsbedarfs. Und die Ergebnisse der Maturitätsprüfungen 2022 waren so gut wie seit vielen Jahren nicht mehr. «Mens sana in corpore sano» („Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper“) – die Gültigkeit der lateinischen Redewendung zeigte sich im Schuljahr 2021/22 auch am LG.
Die vermeintliche Normalität erhielt jedoch schon bald wieder Risse. «Alles ist gut» war der sarkastisch-ironische Titel der diesjährigen Produktion unserer AG Theater. Die Aufführung zeigte denn auch, dass beileibe nicht «alles gut» ist in unserer Welt und viele Menschen – nicht zuletzt auch junge – darunter leiden.
Zum andern mit einer klaren Positionierung, mit Aufklärung und solidarischem Handeln.
Seit Beginn des Schuljahres 2021/22 gibt es am Literargymnasium das neue Freifach «Klimaschutz und Klimakrise», das sich vertieft mit aktuellen Fragen zur Klimakrise befasst und die Frage diskutiert, was wir als Einzelne und als Schule gegen die Klimakrise tun können. Ebenfalls seit Beginn des Schuljahres koordinieren drei Lehrpersonen schulübergreifend mit dem Realgymnasium und dem Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Gymnasium die Aktivitäten rund um das Thema Klimakrise. Aus diesem Engagement resultierten drei konkrete Projekte: die Beteiligung des Literargymnasiums am «Projekt Netto-Null Zürich», die «Food for Future Olympiade» und die Ausstellung «Foodwaste». Die Aktivitäten der Klimakonferenz Rämibühl sind seit diesem Schuljahr auf der neuen Website «klimacampus.ch» abgebildet.
Auch in Bezug auf den Ukraine-Krieg wurde das LG aktiv. Anfang März hat sich das Literargymnasium Rämibühl mit der entsprechenden Publikation auf der Homepage der gemeinsamen Erklärung der nationalen UNESCO-Kommissionen Europas (und darüber hinaus) angeschlossen, in der der Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilt wird. In vielen Fächern, insbesondere im Geschichtsunterricht, wurden die aktuellen Ereignisse verfolgt und diskutiert, die historischen Hintergründe aufgezeigt und in den völkerrechtlichen Kontext eingeordnet. Der Erlös des traditionellen Besuchstag-Kuchenverkaufs – es kamen unglaubliche 3’455 Franken zusammen – ging zugunsten der Ukraine an die zwei Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen UNICEF und Kyiv Pride. Grosse Solidarität zeigte die Schulgemeinschaft ausserdem bei der von der LGBTQ-Gruppe des LG parallel dazu organisierten Sammlung von Kleidern und materiellen Hilfsgütern für die Ukraine. Seit den Frühlingsferien nimmt das LG zudem geflüchtete Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine auf (vgl. dazu auch den Jahresbericht der UNESCO-Kommission).
Und schliesslich mit der Gestaltung der Zukunft unserer Schule.
Unserem neuen Leitbild und dessen Leitbegriffen «Bildung», «Balance», «Gemeinschaft» und «Offenheit» folgend, werden wir uns auch in Zukunft mit Gegenwartsthemen auseinandersetzen. Bildung bedeutet Wissen zu vermitteln, Handlungsspielräume auszuloten und aktiv zu werden. Wir fühlen uns am LG weiterhin dem zentralen Postulat der Aufklärung verpflichtet, Theorie und Praxis, Wissen und Handeln in Einklang zu bringen. Damit begegnen wir der Gefahr des Fatalismus’ und der Hoffnungslosigkeit angesichts der aktuellen Situation unserer Welt. Die uns anvertrauten jungen Menschen sollen am LG auch in den kommenden Schuljahren eigene Handlungsspielräume ausloten und nutzen, um Kraft aus der Erfahrung der Selbstwirksamkeit und des gemeinsamen solidarischen Handelns schöpfen zu können. Welche Meilensteine wir im vergangenen Schuljahr erreicht haben und welche Gestalt das LG in der Zukunft haben wird, können Sie, liebe Leserinnen und Leser, dem Beitrag zum «Projekt LG 2025» entnehmen.
Wie heisst es doch so treffend im Gedicht «Wo chiemte mer hi» des Berner Theologen und Schriftstellers Kurt Marti: «wo chiemte mer hi, wenn alli seite wo chiemte mer hi und niemer giengti für einisch z’luege, wohi dass mer chiem, we me gieng.» Wir werden am LG weiterhin aus dem Schulzimmer in die Welt hinausblicken, uns mit ihr auseinandersetzen, um dort, wo es uns möglich ist, aktiv zu werden und uns für die Gestaltung der Zukunft zu engagieren.
Herzlich,
Markus Lüdin
Rektor